Nach der Kapitulation

Erinnerungen von Alfred Wettengel (Divisions-Stab)

Bedingungslose Kapitulation!… Das war also das Ende eines nahezu sechsjährigen Ringens! Ab 14.00 Uhr sollten die Waffen schweigen und weiße Fahnen in den Stellungen gehisst werden. Die ungeschlagene Kurlandarmee lieferte sich damit im Zuge der Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht auf Gedeih und Verderben dem russischen Gegner aus. Schweigend verließen wir das Bauernhaus, in dem uns unser Divisionskommandeur Generalmajor Schatz am Vormittag des denkwürdigen 8. Mai 1945 diesen Befehl verkündet hatte. Wir alle waren im Innersten erschüttert. Einigen – es waren nicht die schlechtesten Soldaten gewesen – standen Tränen in den Augen.

Unser bewährter Ia Oberstleutnant i.G. Kuntzen hielt auf dem Gefechtsstand in seiner gewohnten nüchternen und durch nichts zu erschütternden Art die Fäden fest in der Hand. Die Disziplin war an diesem Tage wie eh und je, als wollte man die alte Zusammengehörigkeit noch einmal unter Beweis stellen. Dabei würgte allen ein Kloß in der Kehle.

Kurz vor 14.00 Uhr wurde aus den Rohren hinausgejagt, was an offiziellen und schwarzen Beständen noch vorhanden war. Dann brach auf die Minute pünktlich der Feuerzauber ab …Aus! Von einigen Bataillonsabschnitten kam die Meldung, dass der Russe sich an die getroffenen Abmachungen nicht halten und sich den deutschen Stellungen nähern würde. Vereinzelt ratterte MG-Feuer nochmal auf. Dann ebbte auch das ab. Die weitere Entwicklung war nicht mehr in unserer Hand. Von der Heeresgruppe war der Befehl erlassen worden, dass Offiziere bei ihrer Einheit bleiben und diese in Gefangenschaft begleiten müssen. Da ich selbst als Angehöriger des Stabes keine Einheit mehr führte, hielt ich mich an diesen Befehl nicht für gebunden und beschloss mit einigen anderen in gleicher Situation, uns gemeinsam nach Hause durchzuschlagen. Dabei hielten wir es für das beste, zunächst nach Osten auszubrechen und dann im Hintergelände im weiten Bogen durch Litauen und Polen nach Hause zu marschieren. Das war ein weiter Weg! Es war unseres Erachtens je­doch die einzige Möglichkeit, die noch eine geringe Chance bot. Zu groß durfte der “Stoßtrupp” für ein solches Vorhaben nicht sein.. Jeder einzelne musste jedoch durch seine persönliche Einstellung und Ausbildung die Gewähr für ein Gelingen bieten. Zu diesem Kreis, der sich nach Lage der Dinge nur verstohlen und ohne Aufhebens abstimmen konnte, gehörten Major Hiemenz (IIa) mit dem IIa-Schreiber der Division, Oberleutnant Eismann (Ic) mit unserem Dolmetscher Sonderführer Hofedietz, Oberleutnant Mangold, (Ordonnanz-Offizier) und Oberleutnant Wichert (Stabsquartier) mit Hauptwachmeister Kubisch, dem Oberschirrmeister und einigen anderen mir namentlich nicht mehr erinnerlichen Angehörigen des Stabs. Als die Dämmerung hereinbrach, waren wir schließlich ein Trupp von etwa 25 Personen, der sich stillschweigend verkrümelte und in einem in der Nähe gelegenen Wäldchen wieder sammelte. Ganz wohl war uns bei diesem Unternehmen nicht. Trotz der Kapitulation fühl­ten wir uns ein wenig wie Deserteure. Außerdem war unser Vorhaben mit verdammt vielen Unbekannten belastet. Bei völliger Dunkelheit überquerten wir die Straße nach Frauenburg in Richtung unserer alten HKL. Auf ihr marschierten bereits russische Truppen und Fahrzeuge in unser Hintergelände. Der Iwan hielt sich erwartungsgemäß also nicht an die Vereinbarung, dass bis auf weiteres alles in den Stellungen bleiben sollte. In der Nähe unserer vorderen Linie stieß Oberleutnant Günter König mit Obergefreiten Kurt Kiesel (G.R. 409) aus diesem Abschnitt zu uns, der sich – wir hatten es bereits fernmündlich vereinbart – unserem Vorhaben anschloss und uns durch die Minensicherung hindurch lotste. Vorher hatten wir uns zum besseren Durchkommen in zwei Gruppen geteilt, die sich dann bei einer Försterei wieder treffen sollten. Dazu kam es jedoch nicht, sodass meine Gruppe – ihr gehörten u.a. noch Eismann, König, Kubisch und Kiesel an – allein weiter marschierte. Kurz-, vor Tagesanbruch erreichten wir schließlich ein niedriges Fichtengestrüpp hinter dem russischen Grabensystem. Der Iwan hatte seine Truppen aus den Stellungen herausgenommen und in einer etwa 200m entfernten Gehöftgruppe untergebracht. Eine Postenkette nach rechts und links riegelte das Niemandsland vor den ehemaligen deutschen Stellungen jedoch weiterhin ab. Die Burschen vertrieben sich die Zeit damit, mit Leuchtspurmunition ein Freudenfeuerwerk zu veranstalten, so dass der Verlauf der Sperrkette deutlich zu erkennen war. Den Durchbruch durch diese Absperrung konnten wir in der Nacht nicht mehr schaffen. “Wir verkrochen uns unter Fichtenästen und warteten fröstelnd auf den Sonnenaufgang. Am Tage wachten wir abwechselnd. Wer gerade nicht an der Reihe war, versuchte etwas zu schlafen. Es war ein eigenartiges Gefühl, so losgelöst von allen Bindungen und Verpflichtungen nur sich selbst verantwortlich zu sein. Einmal hörten wir in der Nähe russische Laute. Ein Mann unterhielt sich mit einer Frau. Lautlos drückten wir uns in das Moos hinein. Zwischen den Zweigen schimmerte das Braun einer Uniform und ein blauer Rock. Anscheinend wollte ein Liebespaar einmal alleine sein. Einige Meter vor uns kehrten sie Gott sei Dank um und liefen wieder zurück. Aufatmend ließ unsere Spannung nach. Als es am Abend dunkel geworden war, wurde es ernst. Mit zehn Schritt Abstand arbeiteten wir uns in Reihe zu der Postenkette vor. Der Feuerzauber aus den Maschinenpistolen hatte bereits wieder begonnen. Der Iwan, an dem wir uns in fünf Meter Entfernung in einem kleinen Graben vorbeischieben mussten, grölte wie ein Irrer. Das Lied hatte unzählige Strophen, die wir später zu unserem Leidwesen noch zur Genüge kennen lernen sollten. Ab und zu schoss er eine Leuchtkugel hoch und beobachtete das Gelände. Wenn diese wieder erloschen war, knallte er dann mit seiner MP wahllos durch die Gegend. Es dauerte schier eine Ewigkeit, ehe es der Letzte geschafft hatte, sich an ihm vorbei zuarbeiten und in sicherer Entfernung ein Weidengestrüpp zu erreichen. Unsere Pulse klopften zum Zerspringen. Den Rest der Nacht ging es dann freier vorwärts, obwohl wir aus Vorsichtgründen noch Wege und Straßen vermieden. Ab und zu stolperten wir über eine Telefonstrippe oder mussten ein Gehöft umgehen. Einmal stießen wir auf einen Soldatenfriedhof von uns aus einer früheren Kurlandschlacht. Dort war eine russische Tross Einheit untergebracht. An den Kreuzen waren die Pferde angebunden. Ihr Schnauben warnte uns rechtzeitig. Als der Tag graute, hatten wir ein Waldgebiet erreicht, das genügend Sichtdeckung bot. Den Durchbruch hatten wir geschafft! Doch der Weg in die Heimat war noch lang…

Dann erreichten wir zwischen zwei Waldstücken eine alte Frontlinie in der Nähe von Autz. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und beschien eine friedliche Mailandschaft. Der Tau glitzerte im Gras. Es wurde höchste Eisenbahn, das Waldstück jenseits der Lichtung zu erreichen. Als ich in der Mitte angekommen war, stand ich plötzlich in einer Feuersäule! Mein Trommelfell drohte zu zerspringen. Gleichzeitig zog mir ein Schlag mein Untergestell weg und ich kippte nach hinten um. Ich war auf eine S-Mine getreten!…Erstaunt stellte ich fest, dass ich trotzdem noch lebte. Nur meine Beine hatte es arg erwischt. Der eine Vorderfuß hing zerfleddert herunter und aus etlichen Löchern aus meinen Stiefelschäften und dem Ansatz meiner Reithose sickerte Blut. Der Traum vom Marsch nach Hause war ausgeträumt!!! Vorsichtig holten mich die anderen heraus. Den Tag verbrachten wir gemeinsam. Dann hieß es Abschied nehmen . . . voraussichtlich für immer. Meine Kameraden trugen mich noch zu einem Waldweg, der bei den vielen Spuren im Schlamm erwarten ließ, dass einmal jemand vorbeikommen würde. Es war ein verdammt komisches Gefühl, als wir uns schließlich die Hand drückten und sie zwischen den Bäumen verschwanden. An dieser Stelle lag ich drei Tage und drei Nächte. Es war die kritischste Zeit meines Lebens! Fiebriger Schlaf wechselte mit stumpfem Grübeln. Dazwischen schleckte ich den Tau von einer kleinen Fichte in Reichweite und kaute die Nadeln. Am Morgen des vierten Tages wurde ich dann von einer russischen Einheit gefunden, die das Gebiet systematisch auf versteckte Zivilisten durchkämmte. Ein Unterleutnant wollte mir schon den Gnadenschuss geben, als der Bataillonskommandeur, ein “Capitano” in meinem Alter mit Auszeichnungen an der Brust, hinzukam und ihm die Hand herunterdrückte. Auch als ein Dolmetscher mich vernehmen wollte, wies er ihn mit eindeutiger Gebärde zurück. Sie schien zu bedeuten: “Mach keinen Mist, der Krieg ist aus!” Um der Gerechtigkeit willen ist festzustellen, dass ich diesem russischen Offizier mein Leben verdanke! Anscheinend haben die Frontsoldaten aller Nationen für Gefangene ein anderes Verständnis, als manchmal die Angehörigen rückwärtiger Einheiten es aufzubringen vermögen! Zwei Tage lang führte mich diese Einheit auf einem mit Heu gefüllten Wagen mit sich. Dann wurde ich endlich in einer Art Gefangenen-Lazarett abgegeben und in der Nacht noch in einer Scheune operiert. Zuerst wollte der russische Militärarzt mir beide Füße abnehmen. Auf mein Bitten hin und auf meine eigene Verantwortung – ein jüdischer Sanitätsdienstgrad dolmetschte – wurden dann lediglich die bereits schwarz gewordenen Hautlappen mit den daran hängenden restlichen Fußzehen abgesetzt und aus den anderen eiternden Wunden die Splitter so gut wie möglich entfernt. Dem Können dieses Arztes und seiner menschlichen Einstellung verdanke ich heute noch meine Füße! Ende 1946 wurde ich mit dem ersten Offizierstransport invalide entlassen. – Oberleutnant Eismann geriet eines Nachts in Gefangenschaft. Die übrige Gruppe wurde im Memelfluß aufgerieben. Nur Oblt. König und Obgfr. Kiesel retteten sich schwimmend, kamen bis Neidenburg und verbargen sich bei Deutschen bis 1946. König starb später in Westerland.
Auch alle anderen Angehörigen der anderen Gruppe mit Major Hiemenzs, Oberleutnant Wiehert und Mangold, auf die wir in der Nacht nach der Kapitulation am vereinbarten Treffpunkt vergeblich warteten, gelten als vermisst.

Außer mir haben also letztlich nur zwei Kameraden unseres “Heimkehrer-Stoßtrupps” den Weg in die Heimat finden können …

Alfred Wettengel

Quelle:

  • Vereinigung Angehöriger der ehemaligen 122. (Greif) Inf.-Division, Nr. 77, Dezember 1984